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Titel
How America Became Capitalist. Imperial Expansion and the Conquest of the West


Autor(en)
Parisot, James
Erschienen
London 2019: Pluto Press
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
£ 19.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Simon Karstens, Universität Trier

Der Soziologe James Parisot führt mit seinem Buch ein historisch fundiertes Argument für kapitalismuskritische Debatten der Gegenwart und zeichnet zu diesem Zweck mit eher raschen Pinselstrichen ein weites Panorama von ca. 270 Jahren amerikanischer Geschichte. Zentrale These von Parisot ist, dass die amerikanische Gesellschaft nicht von Beginn an kapitalistisch gewesen sei, sondern sich erst in einem längeren Prozess – ausgehend von bereits seit der frühen Kolonialisierung vorhandenen kapitalistischen Elementen in Wirtschaft und Gesellschaft – dahin entwickelt habe. Somit distanziert er sich von einer binären Unterscheidung kapitalistischer und nicht-kapitalistischer Systeme.

Parisot zeichnet die Geschichte dieser Entwicklung anhand zahlreicher Einblicke in einzelne Staaten und Kolonien nach, in denen er angeblich zu allen Zeiten und an allen Orten bestehende Ausbeutungsverhältnisse aufgrund von race und gender ins Zentrum stellt. Diese Ausbeutung habe in den späteren USA die Mittel für eine in der amerikanischen Gesellschaft genuin angelegte, imperiale Expansion nach Westen bereitgestellt, die wiederum auf den patriarchalen Charakter der kolonialen Gesellschaften selbst zurückzuführen sei. Laut Parisot entstanden in den späteren Nord- und Südstaaten so zwar unterschiedliche, aber gleichermaßen ausbeuterische und aggressive kapitalistische Wirtschafts- und Expansionsformen. Eine Perspektive, die darauf basiert, dass Parisot eine frühere Debatte aufgreifend Südstaatensklaverei als kapitalistische Wirtschaftsform einordnet (Kapitel 4). Er führt aus, dass letztlich ein Konflikt der beiden unterschiedlichen amerikanischen Kapitalismen die Ursache des Bürgerkrieges gewesen sei, der zur Umwandlung aller Staaten US-Amerikas von Gesellschaften mit kapitalistischen Elementen hin zu einer einzigen vollkapitalistischen Gesellschaft geführt habe.

Parisots Ziel ist es, die langfristige Wechselwirkung von Kapitalismus, imperialer Expansion und Unterdrückung aufgrund von race und gender offenzulegen, der er explizit auch Relevanz für die Zukunft zuspricht (S. 196). Sein großes Interesse daran, einen Gegenwarts- und Zukunftsbezug herzustellen, führt allerdings aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive zu Problemen. Deren Darstellung ist vorauszuschicken, dass sich diese Rezension nur darauf und explizit nicht auf Parisots politische Argumentation und deren Relevanz für die Gegenwart oder sein soziologisches Argument konzentriert, da für deren Bewertung andere Rezensent/innen berufener wären.

Aus Sicht eines Historikers sind bereits die Eingrenzung der Untersuchung und die grundlegenden Definitionen diskussionswürdig. Parisot kündigt zwar an, das US-Imperium und seine Vorläufer mit allen Verflechtungen berücksichtigen zu wollen (S. 14), setzt dies aber kaum um. Er verweist bestenfalls knapp auf wirtschaftliche oder politische Entwicklungen in Großbritannien und blendet die wirtschaftlichen Verbindungen zu nichtenglischen europäischen Kapitalgebern oder die Handelsbeziehungen der USA in Gänze aus. Besonders letztere Einschränkung schwächt angesichts der in der Forschung seit langem diskutierten Bedeutung von Regionen wie der Karibik für die Entstehung proto-kapitalistischer Wirtschaftsformen oder einer transatlantischen wirtschaftlichen Verflechtung seine Argumentation.1 Auch die heterogene Sozialisation und transatlantische Verflechtung der verschiedenen Einwanderergruppen, die für eine Analyse gesellschaftlicher Entwicklungen durchaus relevant sein dürften, werden nur randständig behandelt. Kurz gesagt transferiert er die aktuelle nationale Untersuchungskategorie USA ins 17. Jahrhundert und nimmt dort ahistorische Grenzziehungen vor. Diese Entscheidung macht das Buch zwar für eine Leserschaft mit Interesse an den Ursprüngen heutiger Problemlagen kapitalistischer Systeme leicht zu konsumieren, schwächt aber das dahinterliegende historische Argument.

Dies passt zu Parisots Vorgehen im Allgemeinen. Ausnahmen und Gegenargumente haben in seiner Darstellung ebenso wenig Platz wie ein quellenkritisches Vorgehen, das die Verfasser/innen und die Kontexte der Quellen berücksichtigt. Weite Teile des Werkes sind ein einseitig konzipierter argumentativer Beleg der im Vorfeld aufgestellten Leitthese. Hierfür eröffnet Parisot kapitelweise kurze Einblicke in die Geschichte von Virginia, Massachusetts, Texas, Ohio, New York, Missouri, Kansas und anderen Staaten, die allerdings für sich genommen interessant zu lesende Impressionen zum Zusammenhang von Wirtschaft und Gesellschaft eröffnen.

Der Fokus von Parisots Argumentation rückt die Frage ins Zentrum, was er unter Kapitalismus oder kapitalistischen Wirtschaftsformen versteht. Seiner Intention entsprechend wählt er eine sehr breite Definition. Für ihn sind kapitalistische Wirtschaftsformen durch Arbeitsteilung, weiträumige Exportwirtschaft und Kapitalakkumulation gekennzeichnet, die er in Anlehnung an bekannte wirtschaftshistorische Großtheorien bereits im Flandern des 11. Jahrhunderts verortet (S. 21). Diese Definition erlaubt ihm, im Zeitalter kolonialer Expansion nicht nur Handelsgesellschaften, sondern sogar einzelne Freibeuter und Fischer als kapitalistisch wirtschaftend zu bezeichnen, sofern sie ihre Mannschaften als abhängig Beschäftigte mit einem Anteil am Profit bezahlen (S. 54–56). Dies macht es ihm einmal mehr leicht, globale Aussagen über Unterdrückung und die Wechselwirkung von Kapitalismus und imperialer Expansion zu postulieren, untergräbt aber zusätzlich deren historische Fundierung.

Folgt man dem Verlauf der Studie, ist aus geschichtswissenschaftlicher Sicht bedenklich, dass der Autor seine analytische Terminologie im Hinblick auf gender und race undifferenziert und ohne Erläuterungen zum historischen Kontext anwendet. Dies führt zu irritierenden Zuspitzungen, wenn er beispielsweise die Aussage einer Siedlerin, sie sorge sich nicht darum, ob ihre Hände bei der Arbeit weiß blieben, als bewusste Abkehr von einer Ideologie der racial-purity deutet und nicht wie sogar in der Quelle selbst gesagt als soziale Abgrenzung einer arbeitenden Frau von Angehörigen höherer Schichten (S. 66). Ebenso fragwürdig erscheint das Argument, dass die Bildung von Siedlermilizen nach Angriffen von Indigenen, die mehrere Farmen verbrannten und Siedlerfamilien töteten, allein auf eine damit verbundene abstrakte Infragestellung der white-patriachical authority (S. 75) zurückzuführen sei und nicht auf eine pragmatische Bedrohungssituation. Dies ist symptomatisch dafür, dass Parisot seine historischen Akteure primär als unbewusste Agenten komplexer sozialer Prozesse sieht und weniger als historische Akteure in konkreten Kontexten. Dies mag die soziologische Argumentation des Werkes stützen, ist aber in geschichtswissenschaftlicher Perspektive nicht unbedenklich.

Auch wenn Parisots konsequenter Blick auf marginalisierte Akteure und Unterdrückung prinzipiell bereichernd und positiv hervorzuheben ist, verspielt er durch die Gleichsetzung historischer Diskriminierungsformen analytischen Mehrwert. So spricht er für die Zeit von 1600 bis 1870 von einer unveränderlichen Form von racism oder racial ideology. Religiöse Argumentationen zur Rechtfertigung oder Kritik an Sklaverei, Expansionspolitik oder der Geschlechterordnung, die für die ersten 150 Jahre zweifellos bedeutsam waren, spielen hingegen keine Rolle. Dies zeigt erneut, dass für Parisot anstelle historisch veränderlicher Motivlagen der Akteure übergreifende Effekte wichtiger sind, die sein Leitnarrativ bestätigen. Daher überrascht es auch nicht, dass er in allen betrachteten Formen von Gesellschaft, Familie, Politik und Wirtschaft das von ihm gesuchte Unterdrückungssystem vorfindet, das er als patriarchical-racialized bezeichnet und für dessen Kritik er Argumente liefern will.

Vor einer abschließenden Bewertung ist noch ein wichtiger Aspekt anzumerken. Parisot berücksichtigt indigene Kulturen insbesondere für die Zeit bis 1800 auffällig wenig. Er spricht weder der Powhatan Konföderation politische Handlungsmacht im frühen Virginia zu (Kapitel 1), noch berücksichtigt er, dass die First Nations im Siebenjährigen Krieg mehr waren als nur politisch passive Helfer der Europäer (S. 81), deren Existenz sich auf den tragischen Untergang ihrer Kultur reduzieren lässt. Parisot thematisiert auch Handel zwischen Siedlern und indigenen Akteuren als Wirtschaftsfaktor nur sehr knapp (so S. 131f.) und der in der Forschung seit Richard White prominente Middle-Ground tritt in seiner Darstellung zwar auf (S. 144f.), wird aber sogleich vom patriarchalen Settler-Imperialism verdrängt, dem die Indigenen zum Opfer fallen. Insgesamt macht Parisot so die First Nations zu Statisten einer einseitigen Geschichte, die im Falle des Settler-Imperialism außerdem auf einer dünnen Literaturbasis steht.

Abschließend sei gesagt, dass historische Analysen kapitalistischer Wirtschafts- und Gesellschaftsformen, in denen Autor/innen Unterdrückung und Ausbeutung in den Fokus nehmen und den ökonomischen Blick um die Kategorien gender und race erweitern, wichtig und notwendig sind. Parisots Bereitschaft, dies anhand eines komplexen Gegenstandes über einen langen Zeitraum hinweg zu versuchen, ist zweifellos ambitioniert und kann durchaus eine zusätzliche Perspektive für aktuelle Debatten eröffnen. Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht zeigt sein Werk allerdings deutlich, dass dies auf Kosten klarer Definitionen, handwerklicher Präzision und eines differenzierten Blickes auf historische Kontexte gehen kann. Es passt damit zu einer zunehmenden Zahl von Werken der letzten zehn Jahre, für deren Autor/innen das politische Argument – in diesem Fall eine Kritik aktueller imperialer Tendenzen der USA und bestehender Ausbeutungsregime aufgrund von race und gender – wichtiger ist als das Verständnis der Geschichte, auf die sie sich dafür beziehen.

Anmerkung:
1 Sidney Mintz, Sweetness and Power. The Place of Sugar in Modern History, New York 1985.

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